Textauszug aus meinem letztem Buch: „Auf Reisen in Norwegen und Schweden“

Zu kaputt zum Fluchen

Wir besorgten uns Kartenmaterial und andere Informationen und wurden sogar für ein Jahr Mitglieder des DNT. Vom Weihnachtsgeld kauften wir uns 80 Liter-Rucksäcke, Top-Schlafsäcke, die sogar für Temperaturen unter 0°C geeignet waren und derbe hohe Wanderschuhe. Jürgen bastelte uns je eine verschraubbare und wasserdichte Überlebenshülse aus Aluminium, die man an einer dünnen Lederschnur um den Hals tragen konnte und die u.a. so wichtige Dinge wie wasserfeste Streichhölzer und eine Angelschnur mit Haken enthielt. Für sich selbst stellte er ein Fahrtenmesser her, das dem von Winnetou in nichts nachstand. Auch einen „Trangia“-Spirituskocher kaufte ich noch. Nur für ein Leichtwanderzelt reichte unser Geld nicht aus. Wir wollten uns notfalls im Freien auf unsere Isomatten legen, in den Schlafsack krabbeln und uns mit einer Plastikfolie vor Regen schützen.

Am Morgen des 20.7.1985 rollen wir  auf der Autobahn Richtung Norden. Die alte Kiste ist vollbepackt bis zum Gehtnichtmehr.

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Wir schlagen  den schmalen Pfad ein und richten uns nach den roten Farbmarkierungen, die mehr oder weniger gut sichtbar an Bäumen oder auf Steinen angebracht sind. Schon nach 20 Minuten wird der Pfad sumpfig und ist kurz darauf gar nicht mehr zu erkennen. Und von den Farbmarkierungen ist auch nichts mehr zu sehen. Wir haben uns verlaufen und stecken mitten drin in einem Zwergweidendickicht eines Hochmoores. Das Wasser läuft uns in die Schuhe und wir sind nicht nur binnen kürzester Zeit klatschnass geschwitzt, wir sind auch über unsere eigene Dummheit so sehr wütend, dass wir uns über die lästigen Mücken schon gar nicht mehr aufregen. Wir kämpfen uns einen Hang hoch, um von oben freie Sicht zu haben. Von dort sehen wir tatsächlich in der Ferne ein Zelt, vor dem zwei Personen sitzen. Dort muss der richtige Pfad sein, denken wir und halten darauf zu. Schon nach einer Viertelstunde stehen wir vor einer ca. 30 Meter tiefen steil abfallenden und für uns unüberwindlichen Schlucht.

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Heute Morgen sind Jürgen und ich sehr schweigsam. Jeder schaut nach unten , schleppt  wortlos seinen Rucksack, und prompt kommen wir vom Weg ab. Weiter kein Problem, die Richtung stimmt, und vielleicht können wir sogar ein wenig abkürzen. Dazu muss ein Wildbach überquert werden. Dabei passiert es. Beim Springen von Stein zu Stein stürze ich, will mich noch mit einer Hand abfangen und fange mir  eine tiefe Fleischwunde zwischen den Fingern ein. Ich blute stark und Jürgen macht mir einen Notverband. Aber es ist keine Frage, ich muss zu einem Arzt!
     

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Die Sonne brennt gnadenlos. Viel trinken ist angesagt. Unsere Literflaschen sind schnell leer getrunken. Die ganzen letzten Tage hatten wir Wasser im Überfluss. Wir brauchten uns nur zu bücken, um es aus einem Bach oder See zu schöpfen. Nur hier gibt es weit und breit keinen Tropfen. Wir nehmen jeder einen kleinen Stein in den Mund. Das regt den Speichelfluss an und lässt den Mund nicht zu sehr austrocknen. „Verdammter Mist“, fluche ich, „warum mussten wir auch vorhin noch richtig einkaufen?“ Es wird noch einmal steiler. Glatte Felsplatten sind zu überwinden. Wir krabbeln manchmal auf allen Vieren, und die Sonne brennt uns die letzten Kräfte aus dem geschundenen Körper Gegenseitiges Aufmuntern und Durchhalte-appelle, anfangs noch verbal, erfolgen nur noch durch Blicke. Wir haben bereits aufgehört zu schwitzen. Zum Fluchen sind wir einfach zu schwach. Jeder von uns kämpft seinen eigenen Kampf gegen den Berg, gegen die Sonne und vor allem gegen sich selbst. Der Körper sagt: „fall einfach um!“ und der eiserne Wille putscht ein „Durchhalten!“ dagegen. Jürgen nennt es später „die Hölle von Kinsarvik“.

Dann keimt in mir ein Hoffnungsschimmer. Katrin und Babsi, die beiden Kölner Mädchen, die wir in Viveli getroffen hatten, müssten uns eigentlich entgegen kommen. Zehn Minuten später treffen wir  sie tatsächlich. Vor unserem geistigen Auge erscheinen sie uns fast mit weißen Gewändern und mit Flügeln. Als sie uns erreichen, fallen wir einfach um.

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Unternehmen Wasalauf:
„Auf der Väter Spur für künftige Siege“

- von Peter Rausch –

(Auszug aus meinem Buch: „Auf Reisen in Norwegen und Schweden“
Wiesenburg Verlag 2008)


Das ist die freie Übersetzung der Inschrift, die sich auf
dem Wasalauf-Zieltor im schwedischen Mora befindet. Sie
kündet von der geschichtlichen Vergangenheit des schwedischen
Volkes, an die der traditionsreichste und größte
Skilanglauf der Welt, der „Wasaloppet“, erinnert. Erstmals
im Jahre 1922 durchgeführt, hat sich dieser Lauf zu einem
Superlativ entwickelt, das auf der Welt seinesgleichen
sucht. Doch zurück zum Zieltor.
Wer als Laufteilnehmer dieses Tor erreicht, wird die Inschrift
kaum mehr bewusst wahrnehmen, denn hinter ihm
liegen 90 schwere Kilometer, die Körper und Geist alles
abverlangt haben, was ein Sportler zu geben imstande ist,
90 Kilometer voller Anstrengung, Schmerzen, Verzweiflung,
aber auch voller Freude, Hoffnung und dem Bewusstsein
eines Erlebnisses, dessen Faszination die Einmaligkeit
sein dürfte. Wer diese 90 Kilometer hinter sich
gebracht hat, ist überwältigt von der Strecke, von den Zuschauern
und nicht zuletzt auch von der eigenen Leistung,
und manche vergossene Träne im Zielraum zeigt dem aufmerksamen
Beobachter das Nachlassen der ungeheuren
Spannung und die große Freude des Läufers, der das
selbstgesteckte große Ziel erreicht hat. Beim Wasalauf
wird besonders deutlich, dass jeder „Finisher“ einen persönlichen
Sieg errungen hat.
Das schwedische Publikum weiß diese Leistung zu würdigen,
ist es doch für den nationalbewussten Schweden eine
ungeschriebene Pflicht, einmal im Leben den Wasalauf erfolgreich
bestritten zu haben. Nur so ist es zu erklären, dass
sich noch Stunden nach Ankunft des Siegers die Zuschauer
besonders im Zielraum drängen und jeden Läufer mit
großem Beifall und herzlichen Anfeuerungsrufen empfangen
und ihm so die Gewissheit geben, dass seine großartige
Leistung die gebührende Anerkennung findet.

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Was uns in Schweden dann neben der schönen Landschaft
und den ausgezeichneten Schneeverhältnissen zunächst
sehr beeindruckte, war die Atmosphäre in dem kleinen Dalarna-
Städtchen Mora. Schon Tage vor dem eigentlichen
Lauf stand die ganze Stadt im Zeichen des Wasaloppet.
Aktivitäten allenthalben, jedoch ohne den kitschigen Abklatsch
und die Fassade einer zweitklassigen Gaudi. Vielmehr
spürte man die Herzlichkeit und die Freude eines
wirklichen Volksfestes, oder sollte ich lieber sagen: Familienfestes?
Ja, irgendwie hatte das ganze ein familiäres
Flair.

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Doch beleuchten wir auch den eigentlichen Lauf von seinem
Beginn: Um 3.00 Uhr aufstehen, frühstücken, mit
dem Auto die 5 Kilometer von unserem Haus nach Mora
fahren, dort um 5.15 Uhr in den ersten der unzähligen Busse
steigen, die die Läufer zum 90 Kilometer entfernten
Startort bei Sälen, nahe der schwedisch/norwegischen
Grenze, bringen.
Zwei Stunden Fahrt in dunkler Winternacht durch unendliche
Wälder. Bus hinter Bus. Nur so kommen die Läufer
zum Startort Sälen. Dieser ist für den übrigen Verkehr
weiträumig abgesperrt.
Dann der Startplatz selbst: mehr als 10000 Läufer sind in
10 Startgruppen aufgestellt und machen nach Lautsprechermusik
und Anweisungen von „Vorturnern“ alle 20 Minuten
eine wohltuende und sicherlich auch notwendige Aufwärmgymnastik.
Um 8.30 Uhr dann der Start. Man vermag
es mit Worten kaum zu beschreiben, wenn sich 10000 Läufer
in Bewegung setzen, 20000 Skier über den Schnee gleiten
und 20000 Stöcke den Takt dazu schlagen. Ab jetzt ist
trotz der riesigen Läufermasse jeder für sich allein. 90 endlose
Kilometer, man kann diese Zahl nicht oft genug
wiederholen, liegen vor den Läufern. Fast so weit wie zum
Mond, und doch mit jedem Schritt weniger werdend.
Nun, schenken wir uns den Kampf um Plätze und Zeiten in
der Loipe, die streckenweise gar keine mehr war, um das
unbändige Verlangen nach Tee, Elektrolytgetränken und
der obligatorischen Blåbærsuppe an den Verpflegungsstellen,
ohne die beim Wasalauf eben nichts läuft. Vergessen
wir auch den persönlichen Kampf mit dem eigenen geschundenen
Körper, der sich gegen die Belastung auflehnt
und aufhören will; dies mag jeder unterschiedlich erlebt
haben. Bewahren wir uns lieber das Erlebnis eines großen
Laufes in einer grandiosen Landschaft und das Gefühl des
persönlichen Triumphes, als wir die Ziellinie in Mora passierten.

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Gedanken zu zwei Winterbildern

 

Zugefroren ist der Bach,
wo sonst Wasser fließt ist Eis.
Der Kaffee im Cafe´ ist schwach,
doch wenigstens ist er noch heiß.

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Vom Eise befreit ist nun schon der Bach,
doch umkränzt noch vom Schnee, dem weißen,
doch hört man, wie langsam der Frühling erwacht,
mit lieblichen Tönen, ganz leisen.

So nimmt die Erneuerung nun ihren Lauf,
jung, rank und schlank sein ist nett,
der Frühling, er kommt, niemand hält ihn mehr auf,
nur ich bin mal wieder- zu fett!

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Orchideen-Gedanken

Unscheinbar, doch wundervoll,
so hab ich dich erblickt.
„Schaut selber, ist sie denn nicht toll,
die ich ins Bild gerückt“?

Kein anderer hat dich wohl gesehen,
der dich für sich wollt haben,
sonst ständest du längst nicht mehr dort,
wärst sicher ausgegraben.

 
So stehst du auch im Winter noch,
mit Freude ich es seh’.
Kaum jemand ahnt's, ich weiß jedoch,
du bist `ne Orchidee.

Du bist vertrocknet, so wie ich,
ein Unterschied ist nur:
dir sagt man nach, mir leider nicht:
du seiest ‚Erotik pur’!

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Weihnachtswichtel

 

- von Peter Rausch –

 

Ein paar Freunde aus früheren Tagen hatten mich zu einem Treffen  in eine Waldgaststätte eingeladen. Ich hatte mich sehr gefreut und natürlich sofort zugesagt, obwohl es einen Tag vor Heiligabend war und ich eigentlich noch Weihnachtsvorbereitungen treffen wollte. Aber das würde ich schon irgendwie schaffen. Uwe hatte mich heute Mittag zu Hause mit seinem Auto abgeholt. „Dann kannst du mal dein Auto stehen lassen“ hatte er gemeint, obwohl ich eigentlich zu Fuß gehen wollte. Durch den Wald war es bis zur Gaststätte vielleicht eine halbe Stunde zu gehen.

 

Nun, es war schön gewesen. Wir hatten gemeinsam gegessen und hatten uns jede Menge zu erzählen gehabt. Die Zeit verging wie im Fluge, und die Dämmerung war schon hereingebrochen, als wir unser Treffen beendeten und aufbrachen. Uwe wollte mich wieder mitnehmen, aber ich lehnte dankend ab. Eine halbe Stunde Fußweg würde mir jetzt gut tun, dachte ich. „Hast du denn keine Angst“, protestierte Uwe mit einem müden Lächeln, aber ich lachte nur, verabschiedete mich schnell von ihm und den Anderen und war einen Augenblick später zwischen den nächsten Bäumen verschwunden.

 

Binnen fünf Minuten war die Dämmerung in Dunkelheit übergegangen. Ich konnte kaum den Weg erkennen, auf dem ich ging. Nur wenn ich nach oben schaute, sah ich die schwarzen knorrigen Äste der mächtigen Bäume wie Finger in den nur kaum helleren Nachthimmel greifen. Kein Stern ließ sich blicken, geschweige denn der Mond. Es war kalt, und die Luft roch nach Schnee. Ringsum Stille. Nur das leichte Knirschen meiner Schuhe auf dem feinen Schotter des Waldweges war zu hören. Vielleicht hätte ich doch lieber mit Uwe fahren sollen, zweifelte ich einen Moment an mir selber, aber dazu war es nun zu spät. Zum Glück kannte ich diesen Teil des Waldes wie meine Westentasche. Glaubte ich jedenfalls, aber in einer so stockfinsteren Nacht war das schon was anderes als am helllichten Tag. Hochkonzentriert setzte ich Schritt für Schritt, um ja nicht den Weg zu verfehlen oder gar noch zu stürzen. Ich hatte nicht einmal mein Handy dabei! Ich konnte also nur hoffen, dass mir nichts passierte.

 

Plötzlich riss ich die Augen noch weiter auf, wischte mit dem Handrücken darüber, als könnte ich so die Schwärze der  Nacht einfach hinweg wischen. Nein, ich konnte mich nicht irren. Vor mir sah ich ein Licht. Was mochte das sein? Hier gab es mit Sicherheit kein Haus oder sonst etwas, was leuchten konnte. Langsam ging ich auf das Licht zu, das mit jedem Schritt größer wurde. Ich wusste, dass es hier in unmittelbarer Nähe eine kleine Waldwiese gab, und genau von dort schien das Licht zu kommen. Je näher ich kam, um so deutlicher wurde das Licht. Es kam von einem Feuer, das auf der kleinen Waldwiese brannte. Nicht groß, aber groß genug, den Umkreis von vielleicht fünf Metern schwach aufzuhellen. Schemenhaft erkannte ich kleine Gestalten mit roten Zipfelmützen, die im Schein des Feuers werkelten. Sie sägten und hobelten mit winzigen Werkzeugen an Holzteilen. Andere bemalten die Holzteile und setzten sie zusammen. Wieder Andere verpackten sie in buntes Papier und banden Stoffschleifen um die Päckchen. Und schließlich gab es welche, die die Päckchen auf einen  riesigen Schlitten luden, der im Schatten eines großen Felsbrockens stand.

 

Unwillkürlich war ich stehen geblieben und rieb mir erneut die Augen. Kein Zweifel, ich war auf eine Gruppe Weihnachtswichtel gestoßen, die hier Geschenke für den morgigen Heiligabend fertig machte. Als Kind hatte ich schon von meiner Großmutter erzählt bekommen, dass es diese Wichtel in unserem Wald gebe, allein, ich hatte ihr nicht so recht glauben wollen. Später hatte ich die ganze Sache einfach vergessen. Aber jetzt fiel sie mir wieder ein. Langsam ging ich weiter und bemühte mich so leise wie möglich zu sein. Aber schon hatte mich der Oberweihnachtswichtel entdeckt, der mit dem großen Geschenkebuch etwas seitlich stand und mit einem großen Stift immer einen Haken an die Adresse machte, wenn ein Päckchen fertig war. Eben noch hatte er sine Wichtel zur Eile angetrieben, denn die Sachen mussten bis morgen fertig sein, und das große Geschenkebuch musste er selber noch dem Christkind bringen. Jetzt ertönte ein leiser Pfiff, das Feuer erlosch augenblicklich und mit ihm verschwanden schlagartig sämtliche Weihnachtswichtel. Ich war wieder allein im dunklen Wald. Es war still. Nur in der Ferne rief ein Käuzchen sein klagendes uuuhhhhuuuhhhuu.

 

Ich ging  weiter, und bald sah ich die ersten Lichter unserer Stadt und war Minuten später zu Hause, wo ich das Erlebte meiner Frau berichtete. Die aber lachte nur und sagte: „Das hast du dir sicher nur eingebildet. Es gibt keine Weihnachtswichtel!“ Ich zuckte nur mit den Schultern und sagte nichts mehr dazu, denn – ich wusste es besser.

 

 

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